Politisches

Zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus 2012 

Es ist wieder einer dieser Tage an dem Deutschland erstarrt und sich bemüht klaren Auges in die Vergangenheit zu blicken. Wer sonst als Marcel Reich-Ranicki, der Zeitzeuge, der Gesellschaftskritiker, der intellektuelle Literat wäre da besser geeignet die Zeitmaschine anzuwerfen? Ist es nicht ein Wunder, dass es überhaupt noch Zeitzeugen gibt? Fast siebzig Jahre sind seit der Befreiung der Gefangenen aus Auschwitz ins Land gezogen und immer noch ist all dies unvorstellbar. Nicht mal die Tatsache, dass es noch Zeitzeugen gibt ist vorstellbar! Man stelle sich vor: Da steht dieser Mann...er ist fast 92 Jahre alt, das allein ist eine Leistung. Aber er ist nicht eben so durchs Leben spaziert. Er hat all diese schrecklichen Dinge miterlebt, sich jahrelang in Angst bei unvorstellbar guten Menschen versteckt und nicht nur das. Er wurde selbst zum Werkzeug der Nazis gemacht, weil er übersetzen konnte, was ihm das Leben rettete...was für ein Teufelskreis. Und das sind doch die Dinge die unvorstellbar sind: Könnt ihr euch vorstellen gebeten zu werden, etwas zu übersetzen in dem das Todesurteil eurer Bekannten und Nachbarn mitgeteilt wird, wenn ihr selbst dafür verschont werdet. Vielleicht. Könnt ihr euch vorstellen, die Frau mit der ihr die letzten zwei Jahre im Ghetto verbracht habt, einfach mal eben zu heiraten, damit sie nicht gehen muss, damit sich nicht sterben wird. Was romantischeres habe ich nie gehört. Aber was das für Emotionen sind! Entscheidungen in Milisekunden, rechts oder links, ducken oder nicht, Bilder rausschmuggeln, abhauen - die Eltern zurücklassen!, hier, schnell, jetzt, keine Zeit zum nachdenken, einfach handeln. Und da beschweren wir uns heute es laste Druck auf uns....

Aber wenn Marcel Reich-Ranicki spricht, dann sind die Ohren der Nation weit aufgesperrt. Es wird versucht jedes Wort des Literaten aufzusaugen, als ob mit jedem gehörten Wort ein bisschen die kollektive Schuld gelindert würde. Und genau das ist das Problem. So lange man auf die Schuld fokussiert und so tut, als wäre all dies in der Vergangenheit, so lange wird das Thema nicht so aufgearbeitet, wie es es verdient hätte. Wichtiger, viel wichtiger als die Schuld einer ganzen Gesellschaft vor über siebzig Jahren ist doch die Verantwortung, die aus dieser Schuld erwächst, die Verantwortung ES anders zu machen, die Verantwortung heute und hier. 
Tun wir doch, würden jetzt sicher viele sagen. Aber worum geht es denn? Sicher, wir haben seither Eskalationen des Fremdenhasses - wenn man das überhaupt so nennen kann! Vielleicht sollte man besser und politisch korrekter sagen: Des Hasses der Andersartigkeit - weitgehend verhindert. Es gibt Untersuchungsausschüsse gegen Zwickauer Zellen, die weils grade günstig ist für sämtliche Ausländermorde der letzten zehn Jahre innerhalb der Republik verantwortlich sein sollen, Hauptsache man hat endlich einen Teufel gefunden, den man an die Wand malen kann. Wenn in ein paar Monaten oder vielleicht Jahren dann raus kommt, dass sie das gar nicht alles waren, dann wird sich dafür niemand mehr interessieren. Es gibt Demos gegen Rechte, aber auch Demos der Rechten, denn wir sind ein freies Land, jeder kann hier finden,glauben,mögen was er will, jeder kann hier tun und lassen was ihm beliebt, nur den Holocaust verleugnen, das darf er nicht, nur das Volk verhetzen ist verboten. Ja, tun wir denn nicht, was man tun kann?

Nein tun wir nicht. Und vor allem haben wir es lange nicht getan. Denn wenn wir wirklich etwas dagegen getan hätten, dass andere Menschen fürs Anderssein - was es auch sei: reich, arm, Ausländer, Frau, Ossi, Schwarz, Asiatisch, jüdisch, muslimisch, ungebildet, hyperintelligent, ADHSler, autistisch...-das all die anderen Menschen, einfach als freie Menschen gesehen werden, die es verdient haben in Würde zu leben, wo sie wollen! - dann hätten wir jetzt nicht so ein Integrationsproblem, denn dann wären keine türkischen "Siedlungen" angelegt worden (bestes Beispiel immer noch der Heidelberger Boxberg), die deutlicher nicht sagen könnten: "Wir wollen euch hier nicht." Warum nicht? Weil ihr anders seid. Und bevor mir jemand ins Wort fällt- natürlich, das ändert sich, aber nur schwerfällig. Viel zu schwerfällig und manchmal in die falsche Richtung. Es gibt doch jetzt islamischen Religionsunterricht, oder nicht??  Als ob das irgendwas besser machen würde! Statt den Religionsunterricht in nun evangelisch-katholisch-islamisch- zu unterteilen, sollten alle Kinder in einen Religionsunterricht gehen und dort über alle Religionen lernen, auf das man vom anderen lernen könnte. Sowohl der Islam als auch das Christentum als auch alle anderen Religionen haben wichtige Dinge zum Leben zu sagen, aber das will ja keiner hören. Gibt es jüdischen Religionsunterricht? "Wir müssen doch christliche Lieder im Religionsunterricht singen!". Ach ja? Müssen wir nicht! Wo bleibt die Trennung von Kirche und Staat? Das soll Unterricht sein, der Wissen vermittelt. Wer möchte dass seine Kinder christliche Lieder lernen, schicke sie in die Christenlehre oder - noch besser- in den Gottesdienst. Die Schule hat damit nichts zu tun. Wenn dann: - aus Bildungszwecken- Lieder aller Relgionen, christliche, islamische, jüdische. Was spräche dagegen? Nichts, sage ich, außer dass das andere anders ist und das wollen wir nicht. Und so drücken wir uns alle vor der Verantwortung, als Volk und als Staat, als Volk weil wir gerne weg schauen und lieber Frauentausch sehen als unseren Horizont zu erweitern, als Staat, weil wir nicht sagen was nur wir sagen könnten und gleichzeitig gerade wir nicht sagen dürfen: Der Konflikt in Israel ist ein Krieg, den wir nicht weiter mittelbar mitfinanzieren, denn wir sind gegen Krieg. Und es ist eigentlich umgekehrt, aber das sieht man nur wenn man verkehrtherum in das Kaleidoskop blickt: Gerade weil das deutsche Volk als Kollektiv die Shoa zu verantworten hat, gerade deswegen sollten wir diesen Krieg NICHT finanzieren. Sollten wir ein Machtwort sprechen gegen den Tod von Menschen. Aber das sieht man eben nicht, wenn man nur die Schuld und nicht die Verantwortung sieht.

Marcel Reich-Ranicki spricht nicht von Schuld. Er spricht von Verantwortung, wenn er beschreibt, dass der Vorsitzende des Judenrates des Warschauer Ghettos Czerniakow sich das Leben nahm, weil er nicht verantwortlich sein wollte, für das was geschehen würde. Überhaupt spricht er überraschend wertfrei. Ist das nicht Anregung zum Nachdenken genug, dass jemand dem das Leben durch die Nazis so schwer gemacht wurde, heute nicht verurteilt?

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